Eine kleine Anekdote vorneweg. Als meine Frau und ich uns überlegten, wie wir unsere Begeisterung für dieses schöne Land am besten mit anderen Menschen teilen können, dachten wir anfangs an Anglerreisen. 2002 gründeten wir dann Kompass Tours, was zu der Zeit noch ein echtes Abenteuer war, da es in Russland nur wenig touristische Infrastruktur gab. Und was es gab, stammte noch aus der Sowjetunion und versprühte diesen einzigartigen sozialistischen Charme.
Also fingen wir mit Anglerreisen an. Zum einen angelten wir selbst und zum anderen ist Angeln sowas wie Volkssport in Russland. Für Angler ist es das Paradies. Endlose Flüsse mit endlos vielen Fischen in unberührter Natur. Was soll da schon schiefgehen. Da kannten wir die Mentalität des deutschen Anglers noch nicht…
Karelien, Land der Wälder und Seen
Voll motiviert ab in den Flieger und auf nach Russland, auf der Suche nach den besten Angelrevieren. Die erste Reise führte uns im Sommer 2002 ganz nach Norden über den Polarkreis. In St. Petersburg angekommen, stiegen wir in eine Wolga-Limousine mit Fahrer um. Wir hatten ehrlich gesagt keine Ahnung, was uns nun erwarten wird. Wir wußten nur, ganz weit oben im Norden gibt es Flüsse mit Lachsen und Forellen, mehr als sich ein Angler nur erträumen könnte. Zumindest die Erwartung sollte sich erfüllen.
Mit dem Wolga durch Karelien
Die Landschaft nördlich von St. Petersburg ist von Wäldern und Seen geprägt. Wasser und Wald sind die Wahrzeichen von Karelien, das einst zwischen Finnland und Russland hart umkämpft wurde. Und je weiter man nördlich kommt, desto grüner werden die Wälder und desto blauer das Wasser. Es ist ein so intensives Grün und Blau, dass man meint, die Landschaft hätte jemand mit Photoshop bearbeitet. Ich vermute mal, es liegt an der sehr tiefen Sonneneinstrahlung, wodurch sich die Bandbreite des Lichts verschiebt. Ähnlich wie eine Abendstimmung, die von Fotografen ja auch wegen ihrer intensiven Farben geschätzt wird.
Karelien
Die Straße führt uns nach Kem, einer Provinzstadt am Ufer des Weißen Meeres mit einem großen Verschiebebahnhof. Der wäre allerdings nur für Fans historischer Eisenbahnen eine Reise wert gewesen. Von Kem aus legen aber die Schiffe nach Solovki ab, dem schaurigen „Archipel Gulag“ des Alexander Solschenyzin. Die Inselgruppe barg aber noch weitere Geheimnisse und daher wollten wir sie unbedingt besuchen.
Der Verschiebebahnhof von Kem
Wie schon erwähnt, durfte man damals in Russland nicht wählerisch sein, was die Hotels betraf. Entweder stammten Sie noch aus der Sowjetunion oder sie waren die Folge erster zaghafter privater Investments. 1998 hatte Russland eine brutale Finanzkrise durchlebt, wodurch die privaten Sparguthaben weitgehend entwertet wurden. Die Folgen waren also noch überall spürbar als wir uns aufmachten, dieses Land zu entdecken. Aber in Kem gab es tatsächlich schon ein privates Hotel. Dort checkten wir nichtsahnend ein.
Das Geschäftsmodell des Hotels war einfach erklärt. In Finnland ist Alkohol mit hohen Steuern belastet und daher sehr teuer. Also fahren ganze Busladungen findiger Finnen über die nahe Grenze nach Russland, setzen sich dort an die Hotelbar und saufen, bis der Arzt kommt. Wir merkten das aber erst, als ein stockbesoffener Finne stundenlang versuchte, in unser Zimmer zu kommen.
Am nächsten Morgen waren die Finnen abgereist und Kem versank wieder in der gleichförmigen russischen Provinzialität. Es ist eine dieser vielen Provinzstädte, die auch mental noch tief in der Sowjetunion stecken. Es ist eine Zeitreise, wenn man aus den großen Metropolen Moskau oder St. Petersburg kommt. Der Hotelbesitzer Iwan war also eine echte Ausnahme. In vielerlei Hinsicht, wie wir bald feststellen konnten.
Hinter vorgehaltener Hand erzählte man uns, er hätte früher für die Mafia in St. Petersburg gearbeitet und sich in Kem zur Ruhe gesetzt. Von seiner Erscheinung her konnte man sich das durchaus vorstellen. Iwan, der Schreckliche. Und er hatte seinen Laden im Griff. Wenn etwas in Kem funktionierte, dann dank Iwan – egal ob Tankstelle, das Hotel oder der Ausflugsdampfer nach Solovki. Der Rest der Stadt war eher noch im sozialistischen Dämmerschlaf. Aber dank seiner Autorität spurten seine Leute. Man könnte auch sagen, sie hatten Angst vor ihm.
Beim Frühstück erzählten wir Iwan von unseren Plänen. Wir suchten die besten Plätze für Angler. Da meinte er, ihr müßt nicht weiter suchen, Kem ist ideal. Da ist sein Hotel und da hinten ist der Fluß mit Lachsen. Besser geht es kaum. Ich war ein wenig skeptisch, schließlich war Kem nicht gerade ein Naturparadies. Aber er meinte, wir könnten es probieren. Wir sollten heute zum Angeln rausfahren und wir würden ganz sicher mit einem Lachs wieder zurückommen. Ich hatte aber eher den Verdacht, der Wunsch war der Vater des Gedankens, da er Gäste für sein Hotel witterte.
Wir setzten uns also in seinen Jeep Cherokee und fuhren zum Fluß. An einem kleinen Häuschen hielten wir an und Iwan klopfte energisch an die Tür. Mehrfach. Dann öffnete sich diese einen Spalt und es erschien Sascha – sichtlich verunsichert. Wie wir bald merkten, hatte sich Sascha schon ganz auf das Wochenende eingestellt und etwas zu tief in die Wodka-Flasche geschaut.
„Sascha, du fährst mit meinen Freunden raus und fängst einen Lachs. Komm mir nicht ohne Lachs zurück!“
Sascha wurde bleich, traute sich aber nicht zu widersprechen. Er kramte seine Angelausrüstung zusammen – jeder Russe hat seine Angel immer griffbereit – und wir gingen mit ihm zum Ufer des gleichnamigen Flusses Kem, der an der Stadt vorbei fließt. Dort standen schon ein paar andere Angler und Sascha erzählte ihnen von seinem Auftrag. Sie lachten und scherzten, dass es wohl Sascha’s letzter Angelausflug wäre. Niemand hätte sich getraut, einen Auftrag von Iwan nicht zu erfüllen.
Mit Sascha beim Lachsangeln – nur ohne Lachse
Aber das hier war nicht zu erfüllen. Kaum waren wir mit dem kleinen Boot auf dem Fluß, war mir auch schon klar, warum es hier keine Lachse geben konnte. Ein paar hundert Meter flußaufwärts stand ein riesiges Flußkraftwerk. Kein Lachs würde es jemals schaffen, in diesem Fluß seine Eier zu legen. So erzählte uns auch Sascha sichtlich verzweifelt, dass man hier den letzten Lachs vor etwa 10 Jahren gefangen hätte. Oder noch länger.
Das Wasserkraftwerk im Fluss Kem
Er gab sein Bestes, aber was auch immer wir an diesem Tag angelten, hatte nicht annähernd das Aussehen eines Lachses. Und bei jedem Fang hörten wir das Gelächter und die hämischen Kommentare seiner Freunde vom Ufer. „Sascha, das ist auch kein Lachs“.
Fischer im Kem-Fluss – auch ohne Lachse
Für uns war die Angelegenheit damit erledigt, schließlich wollten wir von Kem aus nur nach Solovki fahren. Die Flüsse mit den besten Lachsen kommen erst viel weiter nördlich auf der Kola-Halbinsel. Aber Iwan wollte so schnell nicht aufgeben. Er gab Sascha für den nächsten Tag neue Instruktionen. Ich hätte mir gewünscht, Sascha hätte diesmal widersprochen.
Am nächsten Morgen ging es wieder zum nahen Anleger, wo bereits Sascha mit einem kleinen Motorboot wartete. Es war ein sehr kleines Motorboot.
Der Hafen von Kem
„Sascha fährt mit euch heute zum Vonga-Fluss. Das ist der beste Fluss für Lachse! Eine kleine Fahrt über das Weisse Meer.“ Dabei reichte er uns zwei dicke Pelzjacken, mit denen vermutlich Amundsen den Südpol erreicht hatte.
Ich schaute skeptisch auf das aufgewühlte Meer, aber da machte uns Sascha schon ein Zeichen, ins Boot zu klettern. Der hölzerne Pier war vor längerer Zeit halb abgefackelt, aber das störte damals in Russland niemand. Russen haben ein völlig anderes Risikobewußtsein. Es wackelt zwar, aber es hält noch.
Der Pier war irgendwann abgebrannt
Die etwa 2-stündige Fahrt über das offene Weisse Meer – das Land war nur noch als kleiner Streifen am Horizont sichtbar – wurde dann so unangenehm wie erwartet. Wir saßen mit unseren dicken Jacken unbeweglich im Bug, und bei jeder Welle hob das kleine Boot ab und setzte hart wieder auf. Wir flogen immer ein Stück durch die Luft. Ich war mir sicher, meine Bandscheiben werden das nicht überleben. Sascha schien aber ganz entspannt zu sein. Er machte das sicher nicht zum ersten Mal.
Im Motorboot über das Weisse Meer
Die Ankunft in der Mündung des Vonga war jedenfalls eine große Erleichterung. Endlich keine Wellen mehr und im Leerlauf tuckerten wir den Fluß hoch. Iwan hatte nicht zuviel versprochen, es war tatsächlich ein sehr idyllischer Fluß, völlig naturbelassen und gesäumt von dichten Wäldern. Keine Straße führte hier hin. Ja, hier könnte es tatsächlich Lachse geben. Zumindest zur Zeit der Lachswanderung. Wir verbrachten den Tag am Ufer des Vonga und machten eine Menge schöner Fotos. Iwan bekam von uns ein „Daumen hoch“ und Sascha war sichtlich erleichtert.
In der Mündung des Vonga-Flusses
Der Vonga-Fluß – ein Naturparadies
Das geheimnisvolle Solovetzki-Archipel
Der folgende Tag sollte uns endlich zum sagenumwobenen Solovetzki-Archipel bringen, oft auch als „Solovki-Insel“ bezeichnet. Noch auf dem Festland steht ein alter Wachturm aus stalinistischer Zeit, ein verrosteter Zeuge vergangener dunkler Jahre, in denen die Bolschewiken das Kloster der Insel als Straflager nutzten. Der Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn hat das Lager in seinem dramatischen Buch „Archipel Gulag“ verewigt.
Ein Wachturm an der Küste
Die M/S „Vasiliy Kosyakov“ wartete schon am Pier. Kein elegantes Schiff, aber solide russische Werftarbeit, und für die harschen Bedingungen des Weissen Meeres sicherlich bestens gerüstet. Die Überfahrt erinnerte mich an die schwedischen Schären – überall kleine Granitinseln, die einst von Gletschern glattgeschliffen worden waren. Bald tauchte der Archipel am Horizont auf. Schon von weitem waren die starken Festungsmauern zu sehen, roh zusammengefügt aus groben Granitquadern von gar monumentaler Größe.
Die karelischen Schären
M/S Vasiliy Kosyakov
Das Kloster von Solovki sieht sehr wehrhaft aus
Der Goldschatz der Mönche von Solovki
Das Kloster barg nämlich noch ein weiteres Geheimnis. Zur Zarenzeit nahmen die Zaren die beschwerliche Reise zum Kloster auf sich, um sich dort für ihre kriegerischen Vorhaben segnen zu lassen. Und der Segen war natürlich umso wirkungsvoller, je kostbarer die Geschenke waren, die man dem Kloster zukommen ließ. Da die Zaren viele Kriege führten, müssen sie recht häufig die Pilgerreise angetreten haben. So kam ein ganz beachtlicher Schatz zusammen. Experten vermuten, die dicken Klostermauern bewachten einen der größten Schätze des Abendlandes.
Eindrucksvolle Granitquader der Wehrmauer
Die Wehrmauer des Klosters
Doch heute ist er verschwunden. In den Wirren der Oktoberrevolution besetzten Bolschewiken das Kloster. Eines Nachts brannte das Kloster bis auf die Grundmauern ab und die Bolschewiken vertrieben die Mönche. Der Schatz tauchte nie wieder auf. Vermutlich haben die Bolschewiken das Gold eingeschmolzen. Die hohen Mauern brachten sie dann auf eine andere Idee. Wenn niemand hineinkommt, dann kommt auch niemand raus. Und die Insel ist so abgelegen, da kräht kein Hahn danach, was hier passiert. Ein ideales Straflager für Intelektuelle, Schriftsteller oder auch Priester, die man für immer verschwinden lassen wollte. Der Archipel Gulag entstand.
Heute erinnert auf der Insel ein sehr gut gemachtes Museum an diese dunkle Zeit. Das Kloster selbst wird wieder aufgebaut und die Mönche sind zurück. Wenngleich auch um ein paar Tonnen Gold ärmer. Aber dafür kommen jetzt Touristen. Die Insel ist auf jeden Fall einen Besuch wert.
Im zweiten Teil geht es weiter bis hinter den Polarkreis.