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Das Delta der Wolga

Hendrik 04.10.2002 0 Kommentare
Nach unserem Ausflug in den Norden Russlands ging es anschließend ganz in den Süden nach Astrachan. Die Wolga bildet dort ein riesiges Flußdelta von der Größe Bayerns, bevor sie sich in das Kaspische Meer ergießt. Ein endloses Labyrinth aus Urwäldern, Inseln und Kanälen, das sich auch noch ständig verändert. Karten gibt es keine, dafür aber riesige Waller. Der Wels – soviel wußten wir – war eine begehrte Trophäe unter Anglern. Und nirgendwo findet man größere Welse als in den Weiten des Wolga-Deltas.

 

Astrachan – exotische Perle an der Wolga


Ein „Domestic Flight“ in Russland – also ein innerrussischer Flug – war 2002 noch ein echtes Abenteuer. Man flog meist in Flugzeugen, die auf internationalen Strecken nicht mehr zugelassen waren. Auf unserer Strecke von Moskau nach Astrachan war es eine alte Tupolew 154, der „Lada der Lüfte“ und mit über 1.000 gebauten Exemplaren eines der am meisten verbreiteten Passagierflugzeuge der Welt. Leider ist die Tupolew durch eine hohe Unfallquote zu einer etwas unrühmlichen Bekanntheit gekommen. Zwar wird sie im Linienverkehr nicht mehr eingesetzt, aber es sind noch einige Exemplare für das Militär oder Behörden im Einsatz. Beim letzten sehr tragischen Unfall in 2017 starben die Sänger des berühmten Alexandrow-Chores auf dem Weg von Sotchi nach Syrien.

Ankunft am Flughafen Astrachen


Aber ich mochte die alten russischen Jets, man fühlte sich ein wenig in die Pionierzeit der Luftfahrt zurückversetzt. Neben der Tu-154 war die kleinere Tu-134 mein Favorit, die mit ihren stark gepfeilten Flügeln und der gläsernen Bugkanzel eher wie ein Bomber aussah. Dort saß der Navigator, dessen Aufgabe es war, den Kurs des Flugzeugs in der unendlichen Weite der russischen Tundra zu bestimmen. Das war natürlich lange vor der Erfindung von GPS oder Glonass.

Auch der Flughafen in Astrachan erinnerte an diese Pionierzeit. Im ganzen Flughafen gab es nicht einen einzigen Computer. Die Passagierlisten waren von Hand geschrieben und die Anzeige mit den Flügen war eine Tafel mit festen Einträgen. Es änderte sich ja auch nichts, die Flugpläne standen fest. Es war faszinierend.

Analoge Flugzeiten-Anzeige in Astrachan


Astrachan hat eine bewegte Geschichte. Schon im 6. Jahrhundert war es ein wichtiger Handelsplatz für den Warenaustausch zwischen Europa und dem Kaspischen Meer. Aber die eigentliche Gründung der Stadt erfolgt 1558, als Iwan der Schreckliche die Stadt von den Wolga-Tartaren eroberte. Es blieb über viele Jahrhunderte ein wichtiger Handelsplatz für Rohseide aus Persien, Stör und Kaviar aus dem Kaspischen Meer oder auch Wein. Aus allen Epochen finden sich heute noch Gebäude in Astrachan, was das Stadtbild so interessant macht.

Die orthodoxe Kirche von Astrachan


Aber dominierend ist der weiße Kreml, die Stadtburg von Astrachan. Einen „Kreml“ hatte fast jede mittelalterliche russische Stadt, auch wenn es heute ein Synonym für den Moskauer Kreml und das Machtzentrum Russlands geworden ist. Als wir 2002 Astrachan besuchten, wurde gerade intensiv an der Renovierung gearbeitet. Die Krisenjahre waren überwunden, und Russland erlebte einen Aufschwung, der für viele Jahre anhalten sollte.

Der Kreml in Astrachan


Astrachan putzt sich heraus


 

Im Labyrinth des Deltas


Unser eigentliches Ziel war aber eine Anglerbasis tief im Wolga-Delta. Das riesige Flußdelta ist ein Labyrinth aus großen und kleinen Kanälen, Schilfinseln, Sandbänken und unberührtem Urwald. Und es verändert sich ständig, sodaß man sich heillos verirren würde, sollte man sich auf eigene Faust mit einem Boot in das Labyrinth wagen. Auf uns wartete deshalb ein Motorboot mit einem Führer ein paar Stunden außerhalb von Astrachan – soweit eben eine Straße ins Delta hineinführt. In einem Minibus machten wir uns auf den Weg.

Im Minibus unterwegs


Die Straßen waren damals eher als „ländlich“ zu bezeichnen – nicht nur wegen den Schlaglöchern, die unser Fahrer gekonnt umkurvte, sondern auch wegen den Kühen, die schonmal mitten auf der Straße stehen konnten. So kamen wir nur langsam voran und es war schon stockfinstere Nacht, als wir unser Ziel erreichten. Wir sahen die Hand nicht vor den Augen, aber unser Fahrer verschwand zielsicher mit unserem Gepäck in der Dunkelheit. Er warf es eine Böschung hinunter und von unten hörten wir eine Stimme. Das mußte der Bootsführer sein, der das Gepäck im Motorboot verstaute. Das Glimmen einer Zigarette veriet uns seinen Standort und wir rutschten ebenfalls die Böschung hinunter. Nur schemenhaft sahen wir das Boot.

Es war ein langes und schmales Motorboot mit einem Außenborder am Heck. Vermutlich sind die Fischer früher mit solchen Kähnen ohne Motor unterwegs gewesen, und stakten mit langen Stangen durch die Kanäle. So ähnlich wie man das heute noch im Spreewald sehen kann. Wir setzten uns hintereinander in das Boot, die Rücken lehnten an unseren Rucksäcken. Es ging los. Langsam tuckerte das Boot durch die Stille des Deltas. Es war eine unglaublich schöne Fahrt. Über uns der Sternenhimmel, die Bäume am Ufer zeichneten sich nur als Scherenschnitt vor dem Nachthimmel ab, und die menschenleere Stille war – trotz des tuckernden Außenborders – fast greifbar. Dieses Gefühl eines tiefen inneren Friedens, wenn man sich eins mit einer unberührten Natur fühlt, empfinde ich nur an ganz wenigen Orten. Weil es leider nur noch wenige Orte gibt, die nicht von Menschen zerstört wurden.

Wie zum Beispiel auf Kamtschatka, da saß ich schlaflos nachts (Jetlag!) auf der Veranda der Lodge am Kurilensee und lauschte in die Natur. Und langsam schärften sich wieder die Sinne und eine ganze Symphonie an Geräuschen offenbarte das Leben zwischen Vulkanen und Gletschern. Da war das Schnauben des Bären, der am nahen Ufer durch das Wasser stapfte, das Rascheln eines Fuchses im Gebüsch oder die vielfältigen Vogelstimmen in den Bäumen. Oder da war dieser magische Ort auf den Seychellen, ein großer Granitfelsen an der Südküste von La Digue, einsam und nur über verschlungene Urwaldpfade erreichbar. Dort zu sitzen und auf das wogende Meer zu schauen, das sich in rhythmischen Wellen am Ufer brach, war reine Meditation. Da hätte ich tagelang sitzen können. Und natürlich empfinde ich diesen inneren Frieden auf unserer Segelyacht, wenn der letzte Streifen Land am Horizont verschwunden und man eins geworden ist mit dem Meer. Das ist für mich wahrer Luxus.

Der Bootsführer fand seinen Weg trotz der finsteren Nacht. Er nahm hier und da eine Abzweigung, die uns immer tiefer ins Labyrinth des Wolga-Deltas hineinführte. Wir verloren jedes Zeitgefühl. Wieviele Stunden waren wir schon unterwegs? Oder kam es uns nur so lang vor? Die Entfernungen sind ja riesig, man könnte tagelang unterwegs sein, ohne das Delta durchqueren zu können. Aber dann bemerkte ich ein Flackern zwischen den Bäumen am Ufer. Ein einsame Lampe beleuchtete schwach einen Steg, der in die Dunkelheit führte. Unser Boot steuerte direkt darauf zu.

 

Breschnew’s Datscha


Wir schulterten unsere Rucksäcke und Fotoausrüstung und folgten dem Steg bis zu einem betonierten Weg. Der führte uns zu einem Ziegelbau im schnörkellosen Stil der 60-er Jahre. Wir waren an der Lotos-Lodge angekommen! Die einfache Bauweise hätte nicht vermuten lassen, dass die Lodge einst für Breschnew erbaut wurde. Er hätte sie aber nur ein einziges Mal persönlich besucht, heißt es. Immerhin gab es einen Hubschrauber-Landeplatz, aber davon abgesehen wurde „Luxus“ im Sozialismus dann doch ganz anders definiert.

Breschnews Datscha im Wolga-Delta


In der Lodge wurden wir gleich von einer Gruppe russischer Angler mit einem Wodka begrüßt und zum Abendessen eingeladen. Die herzliche russische Gastfreundschaft galt auch im Wolga-Delta.

Ankunft in Breschnews Lodge


Andrei – einer der Angler am Tisch – war eigentlich ein Offizier der russischen Armee und sprach daher ein gutes Englisch und war ein sehr gebildeter Gesprächspartner. „Ich muß euch meinen Fang zeigen“ – „Wie? Jetzt sofort, mitten in der Nacht?“ Aber da war erschon durch die Tür und wir hinterher. Am Steg angekommen hörten wir ein Plätschern im Wasser. Andrei griff nach unten in die Dunkelheit und zog mit aller Kraft einen riesigen Wels nach oben. Was für ein Fisch!

Gefangen – ein Riesenwels


Der Wels war zu alt, um ihn noch zu verspeisen, also würde man ihn nach einigen Fotos wohl wieder freilassen. Aber es vermittelte uns einen ersten Eindruck, was uns im Wolga-Delta erwarten würde. Der Fischreichtum war legendär.

 

Unter den Raubfischern der Wolga


Doch wo viel Licht ist, da ist auch Schatten. Der Stör war im Kaspischen Meer schon damals fast ausgerottet, da man ihn hemmungslos für seinen Kaviar gejagt hatte. Die Gegend ist arm, da das sumpfige Wolga-Delta kaum Arbeitsplätze bietet. Die Fische sind daher oft die einzige mögliche Einnahmequelle – auch wenn damit nicht unerhebliche Risiken verbunden sind.

Früh morgens im Licht der ersten Sonnenstrahlen waren wir schon wieder unterwegs. Dicke Nebelschwaden zogen durch den dichten Urwald, der das Ufer säumte. Unser Bootsführer steuerte uns sicher durch das Labyrinth aus sich verzweigenden Wasserstraßen, bis vor uns aus dem Nebel plötzlich ein Boot mit drei Fischern auftauchte. Sie waren sichtlich erschrocken, beruhigten sich dann aber, als sie sahen, dass wir nur Touristen waren.

Es waren Raubfischer, die sich mit illegalem Fischfang ein karges Zubrot verdienten. Das Boot war schon gut gefüllt, vermutlich sammelten sie gerade die Köder ein, die sie in der Nacht ausgelegt hatten.

Raubfischer im Wolga-Delta


Die Fischer diskutierten lautstark mit unserem Bootsführer, waren aber froh, dass wir keine Ranger aus dem nahen Naturschutzgebiet waren. Die Ranger waren schwerbewaffnet und machten kurzen Prozess. Auch wir wurden ein paar Tage später von ihnen kontrolliert, da das Mitführen einer Angelausrüstung im Naturschutzgebiet strikt verboten war. Diesmal kamen die Fischer aber glimpflich davon und die Diskussion wurde damit beendet, dass die Fischer zwei dicke Fische in unser Boot warfen, sozusagen als kleine Prämie für unseren Bootsführer, damit er sie ziehen läßt. Wie uns dann unser Bootsführer erzählte, geht es wohl nicht immer so friedlich aus. Um den wertvollen Stör wird mit harten Bandagen gekämpft und nicht selten sind auch Waffen im Spiel.

 

Im Angelfieber


Auch wir fuhren weiter und gelangten tiefer in das Wolgadelta. Schließlich wollten wir heute selbst noch ein paar Fische fangen.

Mit dem Motorboot auf der Wolga unterwegs


Die Landschaft im Wolga-Delta ist sehr abwechslungsreich. Neben dichtem Urwald gibt es plötzlich wieder weite Schilflandschaften mit unzähligen Untiefen und Inselchen.

Im Labyrinth des Wolga-Deltas


Schilflandschaft im Wolga-Delta


Die anderen Angler aus der Lotos-Lodge waren auch schon unterwegs.

Angler auf der Wolga


Und wir begegneten auch wieder Andrei, der sich sichtlich über zwei kapitale Rapfen freute.

Andrej freut sich über 2 dicke Rapfen


Wir suchten uns eine gute Stelle und warfen unsere Angeln aus. Es dauerte nicht lange, und wir hatten einen schönen Hecht am Haken. Die Wolga war tatsächlich ein Angelparadies. Bis zum Abend hatten wir eine beachtenswerte Menge Fisch im Boot, von dem wir die meisten unserem Bootsführer schenkten.

Ein schöner Hecht


Ein paar wollten wir aber als Räucherfisch mit nach Deutschland nehmen. In der Lodge gab es einen Räucherofen, auf dem man seinen Fang räuchern und damit haltbar machen konnte. Ich kann den selbstgefangenen Räucherhecht aus der Wolga nur empfehlen, ein echter kulinarischer Genuss.

Unser Fang wird zum Räuchern vorbereitet


Unser Fang auf dem Räucherofen


 

Die Lotosfelder der Wolga


Am unserem letzten Tag in der Lotos-Lodge wollten wir noch die berühmten Lotos-Felder besuchen, die der Lodge ihren Namen gaben. Leider waren wir nicht zur Zeit der Lotosblüte im Sommer hier, wenn die riesigen Felder das Wolga-Delta in ein rosa Blütenmeer tauchen. Aber die Samenstände waren schon eindrucksvoll genug. Die Blütenblätter des Lotos sind übrigens schmutzabweisend, da Wasser einfach an ihnen abperlt. In Asien ist der Lotos daher ein Symbol für Reinheit. Die Kuppel des berühmten Taj Mahal in Indien soll einem umgedrehten Lotos nachempfunden sein.

Lotosblüten


Große Teile des Wolgadeltas stehen unter Naturschutz und werden streng bewacht. Wie ich schon erwähnt hatte, wurden auch wir von den Rangern kontrolliert. Aber eine Fahrt in das Naturschutzgebiet lohnt sich, da es auch ein echtes Vogelparadies ist. Wir landeten an einer kleinen Insel im Delta an und konnten von dort aus die Vogelschwärme beobachten.

Unterwegs im Wolga-Delta


Das Wolga-Delta ist auch ein Vogelparadies


Wir verabschieden uns aus dem Wolga-Delta mit einer schönen Abendstimmung. Es war eine ganz besondere Reise mit einzigartigen Erlebnissen und ein wenig Abenteuer gewesen. Und ich bin dankbar, dass ich noch dieses authentische Russland erleben konnte. Wir ich hörte, wurde die Lotos-Lodge wenige Jahre später geschlossen. Wie bei so vielen Betrieben in Russland waren die Eigentumsverhältnisse nach Glasnost und Perestroika alles andere als geklärt. Wer hatte schon Anspruch auf Breschnews Datscha? Man nahm sich einfach, was man kriegen konnte. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei, Russland hat sich seit damals sehr zum Positiven hin verändert. Aber damit ist eine Reise durch Russland natürlich auch berechenbarer und weniger abenteuerlich geworden. Ich vermute mal, manch einer wird das zu schätzen wissen.

до свидания!

Abendstimmung


 
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