Die Stadt hatte schon viele Namen – Nyen, Sankt-Pieterburch, Sankt Petersburg, Petrograd oder Leningrad – und noch mehr poetische Huldigungen ihrer Schönheit: Zarenstadt an der Newa, Wintermärchen mit Zuckerguss oder das Venedig des Nordens. Es ist also nicht verwunderlich, dass es mich auf meiner Entdeckung Russlands schon sehr bald in diese Stadt verschlug und danach viele weitere Besuche folgen sollten. Von ein paar dieser Begegnungen mit einer ganz besonderen Stadt möchte ich hier erzählen.
Ein wenig Geschichte…
Peter der Große an der Newa
Zar Peter der Große setzte 1703 erstmals seinen Reitstiefel in den Morast des Newa-Deltas. Entgegen der Überlieferung hatte er nicht sofort die Vision, aus dieser sumpfigen und mückengeplagten Flußlandschaft, weit abgelegen von den Metropolen des Zarenreiches, eine neue prachtvolle Hauptstadt zu machen. Zuerst einmal hatte er die wesentlich pragmatischere Vorstellung, die Schweden vom anderen Flußufer zu vertreiben. Dort hatten sie eine kleine Festung errichtet, die Nyenschanze, und die galt es zu erobern. Für ihn war nur wichtig, endlich einen Zugang zur Ostsee zu bekommen, damit er seine ambitionierten Baupläne für eine eigene russische Flotte umsetzen konnte.
Die schwedische Nyenschanze
Peter der Große war ein Mann der Tat. Viele andere hätten wohl gezögert, in einem Sumpfgebiet, das zudem noch von Überschwemmungen heimgesucht wird und dessen wenige Bewohner von Fieber und Mücken geplagt werden, eine neue Stadt zu errichten. Aber ihm ging es vorrangig um einen großen Seehafen für eine noch größere Flotte, die im ständigen Ringen der europäischen Mächte um die Vorherrschaft eine Rolle zu spielen vermag. Er verfolgte dieses Ziel mit einer selbst für die damalige Zeit beeindruckenden Rücksichtslosigkeit. Zehntausende Leibeigene mußten in den Sümpfen unter unmenschlichen Bedingungen schuften und für viele bedeutete es das Todesurteil. Die Stadt wurde buchstäblich auf Knochen erbaut. Im ganzen Reich wurde verboten, Häuser aus Stein zu bauen, da das gesamte Baumaterial und die Steinmetze für den Aufbau von Sankt Petersburg benötigt wurden. Da sich der Adel weigerte, in diese entlegene Gegend zu ziehen, wurde er kurzerhand dazu verpflichtet, in der neuen Hauptstadt auf eigene Kosten ein prachtvolles Haus zu errichten. Aber die drastischen Maßnahmen des Zaren zeigten Wirkung. Schon 1712 ernannte er St. Petersburg zur neuen Hauptstadt, 1714 gab es bereits 50.000 Häuser in der Stadt und heute ist es eine der schönsten Städte der Welt.
Die Flotte in St. Petersburg
Der Dot-Com Hype
Es sollte 1998 werden, bis ich zum ersten Mal meinen Fuß auf das gepflegte Granitpflaster des Newsky Prospekts setzen sollte. Nach meiner ersten Begegnung mit Russland in Moskau war St. Petersburg mein nächstes Ziel. Vor der Jahrtausendwende erlebte die Welt ihren ersten Internet-Boom und ich war auf der Suche nach Programmierern. Dem Tourismus widmete ich mich ja erst ein paar Jahre später, zu dieser Zeit steckte ich tief in der schnelllebigen Tretmühle des Internet-Business. Die Universitäten von St. Petersburg waren voll mit gut ausgebildeten IT-Ingenieuren, die nach den Chaosjahren und Wirtschaftskrisen hungrig auf gute Jobs und Dollars waren. Damals lag der Monatslohn bei $500, und das konnte ich in Deutschland als Tagessatz in Rechnung stellen. Also auf nach St. Petersburg und ein paar Programmierer unter Vertrag genommen.
Unser erstes Büro in St. Petersburg
Meine Geschäftsführerin Masha erwies sich als echtes Organisationstalent und schon bald hatten wir neue Büroräume in einer ehemaligen Kinderbuchfabrik, die gerade in aller Eile zu einem Business Center umgestaltet und renoviert worden war. Russland war damals der wilde Osten. Jeder nahm sich seinen Teil vom Kuchen und nicht immer mit rechtsstaatlichen Methoden. Die Rolle von Polizei und Justiz hatte weitgehend die russische Mafia übernommen, was allerdings kaum einen Unterschied machte, da der Staat selbst durch und durch korrumpiert war. Die Regierungszeit von Jelzin hatte die Dose der Pandora geöffnet. Allerdings muß ich sagen, diese Zusammenhänge waren mir zwar bekannt, aber es schmälerte nicht meinen Unternehmergeist. Bis dann eines Tages ein Anruf von Masha kam. Der Vermieter hatte die Miete kurzerhand verdoppelt, da das Business Center nun ausgebucht sei.
„Und unser dreijähriger Mietvertrag? Was ist damit?“
„Das kannst du hier vergessen“, sagte Masha. „Es gilt nur, was der Vermieter sagt.“
„Das wollen wir mal sehen. Ich komme rüber“ meinte ich und wußte noch nicht, dass das eine ganz dumme Idee war.
Masha versuchte mich noch davon abzubringen, aber machte dann doch einen Termin beim Vermieter. Wir fuhren in die Vorstadt und kamen zu einem Industriegelände, das mit einer hohen Betonmauer umzäunt war. Im Hof hinter einem massiven Stahltor standen ein paar schwarze Luxuslimousinen und Geländewagen aus schwäbischer Produktion. Und sehr viele Männer in dunklen Anzügen mit ebenso dunklen Sonnenbrillen. Aber am dunkelsten war der Gesichtsausdruck. Das Bürogebäude verstärkte den Eindruck, dass hier jemand sehr schnell zu sehr viel Geld gekommen ist, aber nie die Gelegenheit hatte, etwas über guten Stil zu erfahren. Es war ein grauenvoller Mix aus Marmor, Gold und Glas und Hauptsache teuer. Wir warteten auf riesigen Ledersofas, bis wir zum Geschäftsführer gerufen wurden.
Als Kneipenboxer hätte ich ihn mir besser vorstellen können. Der teure Armani-Anzug wirkte da eher wie eine Verkleidung. Passender war da schon die Waffe, die er deutlich sichtbar unter dem Anzug trug. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Film. Masha erzählte nervös von unserem Anliegen, Mietvertrag und so, aber seine Antwort war eher einsilbig.
„Lass uns gehen“, sagte Masha. „Er hat abgelehnt.“
Ganz schnell saßen wir wieder im Auto und machten uns auf den Rückweg. „Warum hast du nicht gesagt, dass unser Vermieter zur Mafia gehört?“ – „Ich dachte, das war klar. Hier läuft nichts ohne die Mafia. Schon gar nicht ein Business Center“.
Wir lösten das Problem auf russische Art. Wir suchten ein neues Büro und zogen langsam aus. Jeden Tag ein paar Möbel, mal einen Computer, dann einen Bürostuhl. Und nach ein paar Wochen waren wir einfach weg. Wir hörten nie wieder vom Business Center in der Kinderbuchfabrik.
Aber das Geschäft brummte und so tat das meiner Motivation keinen Abbruch. Nerviger war da schon das ständige Job-Hopping und Gehaltssprünge von 20-30% im Jahr. Manchmal auch im Monat. Eigentlich war man ständig wieder am Verhandeln, weil es irgendwo ein besseres Job-Angebot gab. Und manchmal kamen dann so große Unternehmen wie Siemens oder Hewlett Packard, eröffneten ein Entwicklungszentrum mit 1.000 Programmierern und saugten den Markt leer.
Wir hatten öfters Geschäftspartner zu Besuch und das erinnert mich an eine weitere Episode. Nennen wir ihn einfach Stefan. Stefan ist heute eine ganz große Nummer in einem großen IT-Konzern. Er hat Karriere gemacht. Damals wollte er bei mir in der Firma einsteigen und wir besuchten gemeinsam unsere Programmierer in St. Petersburg. Wir nächtigten im edlen 5-Sterne Hotel „Grand Europe“, damals wie heute eine der ersten Adressen in der Stadt und direkt am Newsky Prospekt gelegen. Aber die Alternative waren alte Sowjethotels, grauenvolle Betonbunker weit abgelegen vom Zentrum. Wir arbeiteten also im edlen Ambiente der Hotelbar und führten Bewerbungsgespräche mit erwartungsvollen Programmierern. Nach ein paar Stunden machte ich den Vorschlag, sich doch mal ein wenig die Füße zu vertreten und einen kleinen Spaziergang zu machen.
Blutskirche Kuppeln
„Wenn du meinst…“
Es war ein schöner Sommertag und auf dem Newsky Prospekt herrschte ein geschäftiges Treiben. Es ist die Luxusmeile der Stadt – edle Boutiquen, Juweliere und teure Restaurants wechseln sich ab. Aber wir kamen nicht weit. Nach ein paar hundert Metern meinte Stefan:
„Lass uns besser umkehren“
„Warum dass denn? Es ist doch schönstes Wetter…“
„Sind wir nicht schon zu weit vom Hotel entfernt? Ist das nicht gefährlich?“ Er schaute sich ängstlich um, immer darauf gefasst, jeden Augenblick überfallen und ausgeraubt zu werden.
Da wurde mir erst bewußt, wie vollkommen falsch Russland im Westen eingeschätzt wird. Und wie dauerhaft sich diese Feindbild-Propaganda in die Gehirne der Menschen eingebrannt hat. Daran hat sich leider bis heute wenig geändert. Kein Wunder, dass mal einer meiner Programmierer meinte „you are a very brave man„. Es gab nicht viele, die sich ohne großen Konzern im Rücken nach Russland trauten, um dort Geschäfte zu machen. Meine Zusammenarbeit mit Stefan war dann übrigens nicht von langer Dauer.
Leider war der erste Dot-Com-Hype auch nicht dauerhaft. 2001 wurde er umbenannt in „Dot-Com-Krise“ und der Markt konsolidierte sich deutlich. Ich merkte es daran, dass die meisten meiner Kunden gestern noch CEO eines gehypten Startups am Neuen Markt waren und heute in Untersuchungshaft saßen. Es war Zeit für den Ausstieg.
Der Tourismus
2003 war ein weiteres Schicksalsjahr für St. Petersburg und auch für unseren jungen Reiseveranstalter Kompass Tours. Wir waren ja ein Jahr zuvor mit Anglerreisen nach Russland gestartet, hatten aber immer mehr Anfragen nach Städtereisen für St. Petersburg und Moskau. Die Angler erwiesen sich als ein eher schwieriges Klientel, da es ihnen nur auf die Größe des Fangs ankam, aber nicht so sehr auf das Naturerlebnis. Wenn also der Wels im Po-Delta größer ist, auch wenn er direkt neben der Autobahn und einem Kernkraftwerk gefangen wurde, dann fahren sie eben mit dem Wohnmobil ins Po-Delta und kaufen keine doppelt oder dreimal so teure Anglerreise in das Wolga-Delta oder nach Karelien.
Zur Dreihundertjahrfeier St. Petersburgs änderte sich alles. Bundeskanzler Schröder und Putin trafen sich in St. Petersburg, um das Bernsteinzimmer einzuweihen. In den deutschen Medien war St. Petersburg und das Bernsteinzimmer ein Dauerbrenner. Wir wurden von Anfragen nach Reisen nach St. Petersburg regelrecht überhäuft und trafen die richtige Entscheidung, den Fischen in russischen Flüssen ein langes Leben zu gönnen. Ab sofort war Kompass Tours ein Spezialist für Russlandreisen.
Das Bernsteinzimmer
Das Bernsteinzimmer gehört bis heute zum Pflichtprogramm für deutsche Russland-Touristen. Im Ausland ist das amber chamber eher unbekannt, aber für uns ist es Teil eines sagenumwobenen Mythos, ein Schatz vergleichbar mit dem Gold der Nibelungen, das noch irgendwo im Rhein auf seine Entdeckung wartet. Das Bernsteinzimmer hingegen liegt vermutlich irgendwo in Kisten verpackt in einem alten Stollen oder Keller. Oder es ist nach einem Bombenangriff komplett verbrannt. Allerdings sind ein paar Teile des Original-Bernsteinzimmers wieder aufgetaucht. 1997 erkannte ein Tischler eine Kommode, die einst im Bernsteinzimmer stand. Ebenso wurde versucht, ein Mosaikbild aus dem Bersteinzimmer zu versteigern. Das nährt Spekulationen, dass das Bernsteinzimmer den 2. Weltkrieg doch irgendwo überlebt haben könnte.
Allerdings wäre man vermutlich tief enttäuscht, wenn man es denn eines Tages finden würde. Die Wandpaneele sind vermutlich vermodert und verfault, die Mosaike zerstört. Schon vor dem Krieg war das Bernsteinzimmer in einem erbärmlichen Zustand. Die Kenntnisse des Bernstein-Handwerks waren da schon lange verloren gegangen, und der 1716 aufgebrachte Kleber für die Mosaikteile war da meist schon brüchig, Teile lösten sich und wurden dann nur durch angemalte Holzstücke ersetzt.
Von daher ist das neue Bernsteinzimmer wesentlich prachtvoller, als es das alte je gewesen war. Ab 1976 wurde am Wiederaufbau gearbeitet, aber zuerst einmal mußte das alte Bernstein-Handwerk wieder erlernt werden. Sämtlicher Bernstein der baltischen Sowjetrepubliken wurde für die Restaurierung verwendet, was nach dem Zerfall der Sowjetunion dann zu einem Stopp der Arbeiten führte, da der Bernstein nun zu Marktpreisen eingekauft werden mußte. Erst eine großzügige Spende der deutschen Ruhrgas AG ermöglichte den Abschluß der Arbeiten – was dann auch die Teilnahme von Schröder an der Einweihung erklärt. Aber dadurch ist das Bernsteinzimmer heute wieder das, zu was es 1716 eigentlich gedacht war – ein Symbol deutsch-russischer Verbundenheit.
Natürlich habe ich das Bernsteinzimmer auf meinen zahlreichen Reisen nach St. Petersburg ebenfalls besucht. Wenn man Glück hat, und die tiefstehende Wintersonne füllt den Raum mit warmem Licht, dann leuchtet der Bernstein wie flüssiges Gold. Es ist ein magisches Gleißen und Funkeln, wie man es nirgendwo sonst erleben kann.
Heute, über 15 Jahre später, hat sich St. Petersburg sehr zum Positiven verändert. Es ist die europäischste Großstadt Russlands. Die Häuser und Paläste sind weitgehend renoviert und die russische Mafia ist nur gut für ein paar Schauergeschichten. Die Stadt ist für Besucher auf jeden Fall sicherer als Berlin. Auf meiner persönlichen „bucket list“ sind nur noch wenige Punkte offen. Dazu gehört sicherlich, eines Tages mit der eigenen Yacht während der Mitternachtssonne durch die geöffneten Brücken St. Petersburgs zu fahren.
Peter der Große
Meine Empfehlung wäre allerdings, die Stadt auch im Winter zu besuchen. Im weißen Winterkleid entfaltet sie ihre wahre Schönheit. Aber es gibt auch einen ganz pragmatischen Grund. Im Winter gibt es keine Warteschlangen vor den Museen, da keine Kreuzfahrtschiffe anlegen können. Und die Reise ist natürlich wesentlich günstiger als zur Hochsaison im Sommer. Aber egal ob Sommer oder Winter, St. Petersburg muß man einmal im Leben besucht haben.